Mittwoch, 12. November 2014

Kinder – Menschen zweiter Klasse. Teil 1: Über den Umgang mit kindlichen Gefühlen

 
Jimmy Kimmel, ein us-amerikanischer Comedian und Late-Night-Show-Host, hat dieses Jahr wieder Eltern darum gebeten, ihren Kinder zu sagen, dass sie ihre gesamten Halloween-Süßigkeiten aufgegessen hätten, um dann die Reaktion auf Video aufnehmen und auf YouTube stellen zu können. Die Reaktionen der Kinder sind in den meisten Fällen sehr emotional, die Kinder sind wütend und traurig und können ihre Gefühle selten kontrollieren. Das ganze dient dann der Unterhaltung bei Jimmy Kimmels Show.

Ich muss gestehen, dass ich bei der gleichen Aktion letztes Jahr teilweise mein Lachen nicht verkneifen konnte. Gleichzeitig hatte ich ein sehr schlechtes Gewissen deswegen. Ich kann mich nur zu gut daran erinnern, wie weh es tat, wenn Erwachsene sich über mich lustig machten, als ich noch eine Heranwachsende war, wenn sie mich und meine Gefühle und Wünsche und Träume nicht nur nicht ernst nahmen, sondern mich dafür aufzogen.

Wenn ein Kind sich verletzt und weint, heißt es schnell „Es ist nichts passiert.“ Diese Aussage klingt erst einmal harmlos, und ich selbst habe sie lange nicht hinterfragt. Aber durch den Austausch mit anderen wurde mir deutlich, was diese Aussage eigentlich transportiert. Sie untergräbt die Gefühlswelt der Kleinen, denn wenn sie weinen, ist etwas passiert. Auch wenn sie sich körperlich nicht verletzt haben sollten, so haben sie sich zumindest erschreckt. Sie haben für einen kurzen Moment geglaubt, dass sie sich verletzen würden, und somit läuft meistens die gleiche körperliche Reaktion ab, wie wenn eine körperliche Verletzung stattgefunden hätte.

Als ich im schwangeren Zustand zwei Treppenstufen runterrutschte und auf dem Po landete, war körperlich nichts passiert außer einem Schmerz am Po. Ich hatte mich jedoch gewaltig erschreckt, hatte Angst um mein Kind, und auch wenn es kurz darauf sich fit wie immer in meinem Bauch bewegte, pochte mein Herz immer noch, das Adrenalin wurde ausgeschüttet, und ich musste weinen. Wenn jetzt eine Freundin zu mir gesagt hätte, „Es ist nichts passiert.“, hätte mich das zumindest sehr verletzt. Denn dieser Mensch, der mir nahe steht, ignoriert meine Gefühle, meine Angst, und weiß eigentlich auch nicht einmal sicher, ob nicht vielleicht doch auch körperlich etwas passiert war.

Würden geliebte Menschen regelmäßig uns und unsere Gefühle verharmlosen, würden wir uns schnell zumindest nicht mehr wohl und sicher bei ihnen fühlen, wenn nicht sogar keinen Kontakt mehr zu ihnen pflegen wollen. Aber bei Kindern scheinen solche Äußerungen okay zu sein. Und es bleibt meist auch nicht nur bei dieser Äußerung. Wenn wir denken und sagen, dass dem Kind nichts passiert sei, dann verhalten wir uns auch entsprechend. Wir spenden nicht den Trost, den das Kind sich eigentlich wünscht. Wir sind kühler und abweisender in unserer Reaktion.

Dabei ist die Aussage, dass nichts passiert sei, noch relativ harmlos im Vergleich zu anderen Äußerungen, die man z.B. auf dem Spielplatz ständig hören kann. „Du übertreibst.“ „Was weinst du schon wieder?“ „Kleiner Schauspieler.“ Es scheint zum Alltag zu gehören, dass die Gefühle von Kindern nicht ernst genommen werden. Und genau darauf basiert Jimmy Kimmels „witzige“ Idee.

Durch dieses Video wird noch so viel mehr transportiert. Viele Erwachsene wundern sich darüber, dass die Kinder so reagieren, und schieben es auf die Zuckersucht. Auch wenn Zucker abhängig machen kann (Link), glaube ich nicht, dass die Reaktion der Kinder damit (allein) erklärt werden kann.

Man muss sich nur mal vorstellen, der*die Partner*in würde einem sagen, er*sie hätte den gesamten Lohn von einem selbst für unnütze Gegenstände verprasst. Ich glaube, die wenigsten könnten da ruhig reagieren. Denn das würde einen gravierenden Vertrauensmissbrauch seitens geliebter Menschen bedeuten. Nicht anders sieht es da bei den Kindern aus. Sie haben sich das ganze Jahr auf diese Tradition gefreut, sie haben sich die Süßigkeiten erarbeitet, und nun haben geliebte Menschen ihr Vertrauen missbraucht und ihnen die Süßigkeiten und damit einen Teil der Tradition und der Freude weggenommen. Und es sind nicht einmal gleichwertige geliebte Menschen, denen nur einmal ein Fehler unterlaufen ist, sondern es sind Menschen, die Tag für Tag über einen bestimmen. Und jetzt nehmen sie einem auch das noch weg.

Dazu kommt noch, dass die meisten dieser Kinder wahrscheinlich das Jahr über stark bezüglich Süßigkeiten und Essen allgemein reglementiert werden. Weil wir Erwachsenen glauben, dass Heranwachsende sich nicht selbst regulieren könnten. Es stimmt zwar, dass Selbstregulation etwas ist, das Menschen mit den Jahren lernen, aber wie sollen wir Selbstregulation lernen, wenn wir nie die Gelegenheit haben, sie zu praktizieren, sondern stattdessen als Kind permanent von Erwachsenen reguliert werden?

Meine Beobachtung ist, dass gerade bezüglich Ernährung die Fähigkeit zur Selbstregulation schon recht früh ganz gut entwickelt ist. Aber bei den meisten Kindern wird diese Fähigkeit durch ständige Fremdregulation zerstört. Und gewisse Lebensmittel werden gerade dadurch, dass sie zur Seltenheit gemacht werden, besonders attraktiv. Ich kann mich nur zu gut daran erinnern, wie ich nach Feiertagen all die geschenkten Süßigkeiten innerhalb eines Tages, wenn nicht sogar innerhalb weniger Stunden, aufgegessen hatte. Etwas, was ich jetzt nicht mehr kann, weil ich mich seit meinem Auszug in Selbstregulation übe.

Wenn es um Emotionen geht, ist Selbstregulation noch um einiges komplexer und schwieriger. Die Entwicklung dieser Fähigkeit braucht Jahre, aber auch die Unterstützung der Bezugspersonen. Weil letztere Mangelware ist, können die meisten Erwachsenen ihre Emotionen immer noch nicht regulieren. Wir haben gelernt, unsere Gefühle zu verstecken, auch vor uns selbst, aber die meisten von uns können sie nicht regulieren. Regulieren hieße in dem Fall: Die Gefühle wahrnehmen, sie liebevoll annehmen, ihre Ursachen urteilsfrei zu ergründen und, wenn nötig, über Lösungs-/Umgangsstrategien nachzudenken. Das ist eine Kunst. Eine Kunst, die wir lernen müssten, indem unsere Eltern ihre eigenen, unsere und die Emotionen anderer so oft wie möglich ebenso behandeln: Wahrnehmen, annehmen, ergründen, Lösungen finden.

Aber meistens scheitert es schon in der ersten Etappe. Die Gefühle werden geleugnet. Und sollten sie doch wahrgenommen werden, so werden sie nicht angenommen. Wenn überhaupt nach Ursachen gesucht wird, werden diese schnell bewertet. Zu Lösungs-/Umgangsstrategien kommt es extrem selten. Vorher wurde schon geschrien, geflucht und bestraft, und es ist somit kaum möglich, doch noch zu einem konstruktivem Gespräch zusammenzukommen.

Ich beschäftige mich viel mit sogenannten psychischen „Störungen“, wobei ich sie eher als Lernschwierigkeiten und Schutzmechanismen bezeichne, und ich habe den Eindruck, dass unter anderem die mangelnde Fähigkeit zur Selbstregulation vielen zu Grunde liegt. Dies und mangelnde Liebe kombiniert mit Scham würde ich sogar als die Ursache der Schwierigkeiten sehen, unter denen die meisten Menschen leiden.

Wie könnte diese Welt sich ändern, wenn wir die Gefühle von Kindern endlich respektieren würden? Ich denke, dass dies eine deutlich glücklichere Welt wäre, und somit beginne ich bei mir und meinen Gefühlen, bei meinem Sohn und seinen Gefühlen und bei den Gefühlen meiner Mitmenschen. Es ist ein langwieriger Prozess, ich mache Fehler, und es erfordert viel Kraft. Aber diese Arbeit ist so viel wert. Ich kann meinem Sohn durch diese Arbeit sehr viel Leid ersparen.

Wahrnehmen, annehmen, ergründen, Lösungen finden.

2 Kommentare:

  1. Sehr schön geschrieben.
    Leider habe ich die Erfahrung gemacht das nicht mal ich als Erwachsene ernst genommen werden wenn ich dafür eintrete kindliche Gefühle ernst zu nehmen.
    Wird leider immer wieder belächelt...

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  2. Liebe Geli,

    vielen Dank für diesen Blog-Eintrag!
    Ich freue mich schon auf die nächsten.

    Seidem Hündin Enja bei mir lebt, fällt mir nicht nur immer wieder auf, wie wenig liebevoll und respektlos Hunde von den meisten Menschen behandelt werden und wie wenig sie ernst genommen werden, sondern auch wie selbiges auch auf Kinder zutrifft. Und jedes Mal möchte ich eigentlich anfangen zu weinen.

    Menschen wie du machen mir Mut. Du beweist, dass ein Umdenken statt findet - und langsam, ganz langsam wird dieses Umdenken hoffentlich auch den Rest unserer Gesellschaft erreichen.

    Viele liebe Grüße,
    Karin

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