Mittwoch, 19. November 2014

Kinder – Menschen zweiter Klasse. Teil 2: Über Erziehung



Kinder werden als Menschen zweiter Klasse behandelt, meist unter dem Deckmantel, dass man ihnen Gutes tun wollte. Das Ignorieren kindlicher Gefühle beruht teilweise darauf, dass Erwachsene meinen, Kinder müssten „abgehärtet“ werden. Dabei bewirkt gerade diese Abhärtung, dass Kinder es letztlich schwerer im Leben haben. (Hier eine Studie.) Genauso soll Erziehung Kinder auf das Leben vorbereiten, aber tatsächlich findet das Gegenteil statt. Wenn wir uns permanent in das Leben unserer Kinder einmischen, entscheiden, was sie zu tun oder zu lassen haben, statt sie zu unterstützen bei ihren Entscheidungsprozessen, wenn wir sie dann auch noch für Entscheidungen belohnen oder bestrafen, dann nehmen wir ihnen Tag für Tag Selbstständigkeit und Selbstwertgefühl.

Mit diesem Bewusstsein wachsen wir jedoch nicht auf. Wir wachsen damit auf, dass Erziehung ein wichtiger Bestandteil des Erwachsenwerdens ist und es ohne nicht geht. Dass sie sogar eine noble Sache ist. Aber was genau ist Erziehung eigentlich?

Wenn ich bei Wikipedia „Erziehung“ eingebe, bekomme ich folgende Definition:
„Unter Erziehung versteht man die von Erziehungsnormen geleitete Einübung von Kindern und Jugendlichen in diejenigen körperlichen, emotionalen, charakterlichen, sozialen, intellektuellen und lebenspraktischen Kompetenzen, die in einer gegebenen Kultur bei allen Menschen vorausgesetzt werden.“ (Quelle)

Mir fällt das Wort „Erziehungsnormen“ auf, also schaue ich mir die genaue Definition dieses Wortes auch einmal an:

„Eine Erziehungsnorm ist ein überindividuelles Wertprinzip bzw. eine soziale Norm, die festlegt, wie die Erziehung von Kindern und Jugendlichen erfolgen soll.“ (Quelle)

Wer legt diese Norm fest? Wer sagt, wie der Umgang mit Heranwachsenden erfolgen soll? Ich weiß nicht, wie es anderen damit geht, aber ich folge ungern Normen, sondern folge lieber einer Mischung aus meinem Verstand, meinem Gefühl, meinen Erfahrungen und meiner Recherche. Und ich wünsche mir, dass es meine Kinder später ebenso tun. Doch wie sollen sie das lernen, wenn ich ihnen das Gegenteil vorlebe und mich bei meinem Umgang mit ihnen an Normen orientiere? Wenn ich mir wünsche, dass meine Kinder ihre Umgebung kritisch hinterfragen und eigenständige Entscheidungen treffen, sollte ich damit bei mir selbst beginnen. Das Hinterfragen von Erziehungsnormen ist somit einer der ersten Schritte. Nun denken wir meist, dass wir unsere Entscheidungen treffen, was den Umgang mit unseren Kindern umgeht. Aber ist dem wirklich so?

Ich denke, gerade weil die meisten von uns nach Normen erzogen wurden, fällt es uns so schwer herauszufinden, was wir eigentlich unabhängig von anderen denken und fühlen, und dem entsprechend zu handeln. Unsere Eltern bzw. Bezugspersonen wissen sehr wahrscheinlich noch nicht einmal, wer sie eigentlich im Kern sind, geschweige denn konnten sie uns vorleben, wie man ein wirklich eigenständiges Leben führt. Es ist ein Teufelskreis, der von Generation zu Generation seine Runden nimmt.

Wir wurden als Kinder in „körperlichen, emotionalen, charakterlichen, sozialen, intellektuellen und lebenspraktischen Kompetenzen“ „eingeübt“ und sollen dies nun wiederum an unsere Kinder weitergeben. Dass Erziehung, dass diese „Einübung“ nötig sein soll, dem unterliegt der Glaube, dass wir ohne diese Einübung nie entsprechende Kompetenzen entwickeln würden oder nicht im ausreichenden Maße. Die aufgelisteten Kompetenzen sind tatsächlich sehr, sehr wichtig nicht nur um ein zufriedenstellendes Leben zu führen, sondern um überhaupt zu überleben. Und weil diese Kompetenzen überlebenswichtig sind, würde ich folgende These in den Raum stellen: Wir entwickeln diese Kompetenzen bis zu einem gewissen Grad nicht durch die Einübung durch unsere Bezugspersonen, sondern trotz dieser Einübung. Wir erwerben sie durch Beobachtung und Nachahmung.

Kommunikation und künstliche Konsequenzen in der Form von Bestrafung und Belohnung sind nicht sehr effektive Strategien, um überlebenswichtige Fähigkeiten zu vermitteln. In den ersten Jahren verstehen Menschen diese Strategien überhaupt nicht oder nur sehr eingeschränkt, und selbst danach braucht es noch viele Jahre, um Sprache und künstliche Konsequenzen wirklich einordnen zu können. Sie lösen eine emotionale Reaktion in uns aus, die wir dann je nach dem entweder vermeiden oder auslösen wollen, aber sie bringen uns nicht wirklich bei, wie man (über)lebt. Es ist eine viel sicherere Überlebensstrategie, unsere Bezugspersonen zu beobachten und ihre Verhaltensweisen zu imitieren, denn immerhin haben diese bereits einige Jahre überlebt. Doch genau so entstehen diese Kreisläufe, bei denen die Macken von einer Generation zur nächsten getragen werden, weil wir nun einmal auf Nachahmung programmiert sind.

Wir sind soziale Wesen, und somit sichern soziale Kompetenzen unser Überleben. Dennoch scheint unser Umgang mit Kindern dem Glauben zu unterliegen, dass wir Menschen so, wie wir sind, nicht gut, nicht sozial sind und wir deswegen darin eingeübt, trainiert, dazu erzogen werden müssen, gut und sozial zu sein. Wenn Eltern ihre Kinder lange stillen (wollen), mit ihnen im Familienbett schlafen (wollen) und sie in Trage oder Tuch tragen (wollen), hagelt es häufig Kommentare wie „Der manipuliert euch!“ „Sie wird ewig bei euch im Bett schlafen.“ „Ihr werdet ihn nie wieder los!“ „So wird sie doch nie laufen lernen!“ Menschen scheinen davon auszugehen, dass wir als manipulative, faule Wesen geboren werden, die kein selbstbestimmtes Leben anstreben. Dabei spricht absolut nichts für diesen Glauben.

Im Gegenteil, diverse Studien (z. B. hier) belegen, dass wir Menschen danach streben kooperativ zu handeln. Und das ist auch nicht verwunderlich, denn es ist schwierig, einen stabilen sozialen Verband zu bilden, wenn die Teile des Verbandes Kooperation nicht so prickelnd finden.

Trotz all dem werden Heranwachsende wie Menschen zweiter Klasse behandelt, die zu einem Leben in der ersten Klasse zunächst einmal zurecht „gezogen“ werden müssen. Was macht das mit ihnen? Was hat es mit uns in unserer eigenen Kindheit gemacht? Wenn wir davon ausgehen, dass Menschen so, wie sie sind, nicht gut sind und erst gut „gemacht“ werden müssen, geben wir jungen Menschen permanent genau dieses Gefühl: Ich bin nicht gut, so wie ich bin. Dieses Selbstverständnis hat eine sehr zerstörerische Wirkung und beeinflusst Menschen jahrzehntelang, meist ihr Leben lang. Dieses Gefühl bewirkt Scham, eine Emotion, die bis zu einem gewissen Rahmen eine sinnvolle Aufgabe erfüllt, aber in dem Maß, mit dem die meisten von uns aufwachsen, wirkt Scham zerstörend auf unsere Psyche und mitunter auch auf unseren Körper. Diese zerstörerische Wirkung, entstehend durch Erziehung, bewirkt das Gegenteil dessen, was Erziehung eigentlich bewirken soll: Die Scham, die wir mit uns tragen, erschwert uns das Leben.

Zum Thema Scham wird es hier einen ausführlichen Artikel geben, aber zunächst möchte ich nächste Woche eine Alternative zur Erziehung vorstellen: Unerzogen.

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